Ludwig Mises und das Wiener Privatarchiv
Die Person Ludwig Mises
Ludwig Heinrich Edler von Mises wurde 1881 in Lemberg (heute: Lviv in der Ukraine), der damaligen Hauptstadt des Kronlandes Galizien, in eine jüdische Familie geboren. Die Familie Mises übersiedelte nach Wien, wo sein Vater Arthur im k.k. Eisenbahnministerium arbeitete. Von 1900 bis 1906 studierte Mises Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Dort besuchte Mises zusammen mit späterhin prominenten Kollegen wie Joseph Schumpeter und Otto Bauer die Seminare von Eugen Böhm-Bawerk, Professor für Politische Ökonomie und Finanzminister der „cisleithanischen“ Reichshälfte.
Ab 1909 beginnt Mises als Konzeptspraktikant an der Handelskammer und Gewerbekammer in Wien am Stubenring zu arbeiten. Als solcher berichtete er dem Abgeordnetenhaus die Stellungnahmen der Handelskammer zu Gesetztesentwürfen. Er stieg bis zum leitenden Beamten des dem Finanzministerium unterstehenden Abrechnungsamtes auf, dieses war für die Abrechnung der „Vorkriegsschulden“ zuständig, denn während des Ersten Weltkrieges waren die Geldflüsse in die gegnerischen Länder blockiert.
Mises der Ökonom
An der Universität Wien habilitierte sich Mises 1912 mit der „Theorie des Geldes und der Umlaufmittel“, die eine Integration der Theorie des Geldes in die Grenznutzentheorie der Österreichischen Schule der Nationalökonomie darstellte. Danach wurde er Privatdozent und unbezahlter außerordentlicher Professor an der Universität Wien. Ab den 1920er hielt Mises sein sogenanntes „Privatseminar“ zweimal im Monat in den Räumlichkeiten seines Büros in der Handelskammer ab. Dort diskutierte er unter anderem mit Friedrich August Hayek, Martha Stefanie Braun, Oskar Morgenstern, Fritz Machlup-Wolf und Gottfried Haberler über ökonomische und wirtschaftspolitische Themen; aber beispielsweise auch über Psychologie und Geschichte.
In „Die Gemeinwirtschaft“ von 1922 wollte Mises die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung in zentral gelenkten Gesellschaftssystemen darstellen. Zusammen mit Hayek gründete Mises Ende 1926 das Österreichische Institut für Konjunkturforschung das 1927 seinen Betrieb aufnahm und sich der empirischen Konjunkturforschung verschrieb. 1934 ging Mises nach Genf, wo er eine bezahlte Professur am Institut universitaire de hautes études internationales erhielt. Nach der Besetzung des Nordteils von Frankreich 1940 durch die Wehrmacht, fühlte sich Mises als Jude in Genf nicht mehr sicher und emigrierte 59-jährig in die USA, wo er zwischen 1945 und 1969 an der Universität von New York eine Stiftungsprofessur innehatte und zum Hauptprotagonisten der bis heute vor allem außerhalb akademischer Zirkel überaus einflussreichen Austrian Economics in den USA wurde.
Ludwig Mises' Privatarchiv
Als Ludwig Mises 1934 von Wien nach Genf übersiedelte, wurden von ihm gesammelte Materialien und Dokumente in einem Raum in seiner Wiener Wohnung verwahrt. Darunter befanden sich seine Korrespondenz mit Kollegen, Studierenden, Journalisten, verschiedenen Institutionen und Vereinigungen (z.B.: Völkerbund, Europäischer Zollverein, österreichisches Finanzministerium), Sitzungsprotokolle der Handels- und Gewerbekammer und Unterlagen zu Mises‘ Vorlesungen und Seminaren. Dieser Bestand wurde 1938 von den Nationalsozialisten konfisziert und von Wien nach Berlin gebracht und später wegen der Luftgefahr etwa nach Niederschlesien ausgelagert.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 fielen der Roten Armee bei ihrem Vormarsch solche ausgelagerten Aktenbestände einschließlich der Mises-Dokumente in die Hände. Diese wurden nach Moskau gebracht. Im August 1945 wurde von sowjetischer Seite der Beschluss gefasst, dass man für diese sogenannten „Beuteakten“ ein gesondertes Archiv gründen sollte. Der Rat der Volkskommissare der UdSSR unter Vorsitz von Vjačelav Molotov beschloss offiziell am 9. März 1946 die Errichtung eines eigenen staatlichen „Sonderarchivs“ für 1,5 Millionen „Beuteakten“ aus 20 verschiedenen Ländern. Mit deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen wurde binnen weniger Jahre im Norden Moskaus ein großes Archivgebäude erbaut und die erbeuteten Materialien in absolut geheime Verwahrung genommen, ohne dass die Benützung für Forscherinnen und Forscher möglich gewesen wäre. Kein Wegweiser, keine Aufschrift, kein Verzeichnis wiesen darauf hin. Erst 1990 wurde die Öffentlichkeit durch die Recherchen einer Journalistin von dessen Existenz in Kenntnis gesetzt.
1991 erhielt Stefan Karner als erster westeuropäischer Historiker Zugang zu den „Beuteakten“-Beständen des Archivs. Daraufhin wurde der 477 Laufmeter umfassende Österreich-Bestand des Moskauer Sonderarchivs in Form eines wissenschaftlichen Projektes aufgelistet. Auf dieser Basis wurden Anfang der 2000er Jahre bilaterale Restitutionsverhandlungen zwischen Russland und Österreich geführt, an denen Stefan Karner für das österreichische Außenministerium als Experte beteiligt war. Der Bestand Mises, Fonds 623 des Moskauer Archivs, konnte so restituiert werden und befindet sich nunmehr im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik in Wien. Dieser umfasst insgesamt 196 Aktenfaszikel mit insgesamt 16.599 Seiten. Rund 80 Faszikel beinhalten Korrespondenzen mit Kollegen und verschiedenen Einrichtungen betreffen. Der Bestand umfasst Unterlagen über den Zeitraum von 1900 bis 1934, in Einzelfällen bis 1938.
Beteiligte Institutionen
Links
- Jubiläumsfonds der OeNB
Dieses Projekt wird durch den Jubiläumsfonds der OeNB finanziert.
- Graz Schumpeter Centre
Das Projekt ist unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner und Univ.-Prof.i.R. Dr. Richard Sturn am Graz Schumpeter Centre angesiedelt.
- Forschungsportal Graz Schumpeter Centre
Hier geht es zum Forschungsportal des Graz Schumpeter Centres.